2015
Motorrad
„Das feine Motorrad! Das schöne Motorrad!“, jammerte
Georgs Mutter.
„Dummes Ding, hilf Vater lieber mit auf die Beine!“, fuhr
Oma sie an.
Herr Boland schaltete das Motorrad aus, hob es vorsichtig
an und schob es zur Seite.
„Georg, hol’ die Schubkarre von der Tenne“, forderte er
seinen Sohn auf. Georg holte die Karre, und mit vereinten
Kräften wurde Opa auf die Schubkarre gelegt und über die
Tenne in die Wohnung gefahren.
Für uns war der Nachmittag gelaufen. Frau Boland gab
uns zu verstehen, dass wir nicht mehr erwünscht seien: „Ihr
müsst jetzt gehen! Hier gibt es nichts mehr zu sehen.“ Also
machten wir uns auf den Heimweg. Unterwegs mussten wir
trotz der Tragik erst mal kräftig lachen. Ludwig fing immer
wieder damit an, und auch wir anderen konnten es uns nicht
verkneifen.
Opa Boland hat den Schreck – abgesehen von der gebro-
chenen Nase und einigen Schürfwunden – gut überstanden.
Aber er hat seit dem Tage, glaube ich, kein Motorrad mehr
angefasst.
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Kurzgeschi cht en
auf. Die Fußrasten wurden heruntergeklappt,
Georg stieg auf. Sein Vater fuhr los und dreh-
te auf dem Hof ein paar langsame Runden. Als
nächstes war Georgs Bruder dran. Sogar Lud-
wig, Karl-Heinz und ich durften nacheinander
mitfahren. War das toll!
Nun wurde Opa Boland aufgefordert, eine
Runde mitzufahren, damals ein Mann kurz vor
dem Siebzigsten.„Komm, setz dich drauf!“, for-
derte sein Sohn ihn auf.
„Nä, nä!“, wehrte der Opa ab. „Wenn ich da
drauf sitzen soll, dann will ich auch selbst fah-
ren!“
„Aber Vater, dazu bist du schon zu alt.“
„Zum Schweinefüttern bin ich doch auch nicht
zu alt! Zeig’ mir, was ich machen muss, dann
wird es bestens klappen!“
Schweren Herzens stieg Bauer Boland ab und
liess seinen Vater auf die Maschine.
„Hier links, das ist die Kupplung. Die musst
du langsam loslassen und hier rechts drehen. Das
ist Gasgeben. Wenn du anhalten willst, drehst
du den Gashebel wieder zurück, ziehst links die
Kupplung und bremst mit dem Hebel hier rechts
langsam ab. Hast du alles verstanden?“
„Joa, joa!“, haderte Opa ungeduldig. „Geh zur
Seite, jetzt geht’s los!“
Er ließ die Kupplung kommen, hob die breit-
gespreizten Beine an und fuhr leicht wackelnd
an, lang über den Hof bis zur Scheune, wo er
etwas Gas wegnahm, ganz manierlich wendete
und zurückkam. Man sah seinem angestrengten
Gesicht an, dass es ihm doch auch Spaß bereite-
te. Auf der anderen Seite des Hofes wendete er wieder und
kam auf uns zu. Im Vorbeifahren rief er seinem Sohn zu:
„Eine Runde drehe ich noch!“, gab Gas und fuhr weiter.
Wieder an der Scheune angekommen, wendete er abermals.
Ich hatte kurz den Eindruck, dass er dabei mehr Gas gab
als beim ersten Mal, aber schon knatterte er erneut auf uns
zu, kam immernäher und machte keine Anstalten, das Gas
wegzunehmen. Nur sein Brüllen vernahmen wir: „Tor auf!
Tor auf!“
Zu spät!
Mit voller Wucht bretterte er mit dem schönen, neuen Mo-
torrad in das große zweiflügelige Tennentor, bei den Bauern
auch „Enddööre“ genannt. Ein Knall, der Schrei von Ge-
orgs Mutter, das Gewimmer von Oma und das Fluchen von
Georgs Vater waren eins.
Opa hatte weniger zu sagen. Mit Schwung über den Len-
ker fliegend, war er voll mit dem Gesicht auf die Tür ge-
prallt und lag nun vor dem Tennentor. Nase, Lippen und
Stirn bluteten. Obendrein steckte die Hälfte seines Körpers
unter dem umgekippten Motorrad. Der Motor lief noch und
das Hinterrad drehte sich wie wild.